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Der Journalist Clément Grandjean ist in wenigen Monaten zum Schweizer Tattoo-Spezialisten geworden. Sein Buch Swiss Tattoo erscheintim September bei Helvetiq.

Kennen Sie Miss Alwanda, »die tätowierte Dame«? Sie war eine Zirkusschauspielerin aus dem späten 19. Jahrhundert, die einen Körper besass, der mit Porträtbildern von europäischen Adeligenbedeckt war. Es wurde erzählt, dass sie von Ureinwohnern Amerikas entführt und gewaltsam tätowiert wurde. Ihr Leben ist einer von vielen Kuriositäten, die Clément Grandjean letztes Jahr gefunden hat. Der Journalist und diplomierte Historiker und Kunsthistoriker hat die letzten 18 Monate damit verbracht, Tattoo-Artists zu treffen, Museen zu erkunden, in Archiven zu stöbern und Historiker*innen zu interviewen, um das erste Buch über das Schweizer Tattoo zu schreiben.

 

Mit dem Schreiben dieses Buches bist du zum Spezialisten der Tattoo-Kunst in der Schweiz geworden. Wie ist das passiert?

Es gab niemanden sonst, also war es einfach! Die Idee war nicht, mich zum Experten zu entwickeln, sondern zu zeigen, dass es auf diesem Gebiet etwas zu sagen gibt. Ich hoffe, eine kleine Tür geöffnet zu haben, die die akademische Welt ermutigt, sich für das Tätowieren zu interessieren. Es ist ein Thema, über das noch wenig recherchiert wurde.

Was interessiert dich am Tätowieren?

Mich fasziniert, dass es sich um ein uraltes Darstellungsmedium handelt, das auf der ganzen Welt verbreitet ist und den noch von der Kunstgeschichte ignoriert wird. Ich verfolge gerne die Entwicklung von Mustern, entdecke gerne die Bezüge zu alten oder zeitgenössischeren Kulturen... Diese Referenzen, die in der gesamten Kunst zu finden sind, sind beim Tätowieren besonders ausgeprägt. Auch auf ästhetischer Ebene fasziniert mich das Tattoo. Als Kind gefiel es mir, eine Tätowierung unter einem hochgekrempelten Ärmel hervorblitzen zu sehen. Das Tattoo spielt mit dem, was wir zeigen oder verbergen. Das lässt viel Raum für die Fantasie. Und wenn das Bild einmal auf der Haut ist, sieht es nicht wie ein Bild auf Papier aus: Es bewegtsich mit der Haut, es entwickelt sich im Laufe der Zeit. Ich finde das spannend.

 

Wann hast du dein erstes Tattoo stechen lassen?

Vor nicht allzu langer Zeit: Anfang 2017, kurz vor der Geburt meiner Tochter. Ich habe vorher viel nachgedacht und die Sache vielleicht über intellektualisiert. Jetzt habe ich zwei ziemlich grosse. Laut meiner Mutter sind zwei zu viel, laut meiner Frau sind sie nicht schlecht, und ich denke, es ist ein guter Anfang!

Welche Eindrücke hast du von deinen Begegnungen mit Schweizer Tätowierern?

Ich war beeindruckt von der immensen Vielfalt, die in der Branche zu finden ist. Jeder Tattoo-Artist hat seinen eigenen Ansatz, Stil und Hintergrund und entwickeltsich in einer ganz anderen Atmosphäre. Beim ersten Tattoo wählt man oft nach rein ästhetischen Kriterien aus und ignoriert, wie sehr die Art des Studios, die Atmosphäre, die dort herrscht, die Zeit, die man für das Tattoo aufwendet, sich auf das Erlebnis auswirken. Ein weiteres Element, das mir aufgefallen ist, ist, dass das Tätowieren einen bestimmten Prozess beinhaltet, bei demsich Schmerz und Intimität vermischen. Dies wird von vielen der Künstler*innen auch so empfunden; sie sind sehr sanft, sie hören zu, sie wissen, wie man Menschen beruhigt. Sie sind für ihre Kund*innen ein bisschen wie ein Psychiater und haben ein gutes Wissen in diesem Bereich. 

Nimmt die Schweiz eine Sonderstellung in der Tattoo-Welt ein?

Auf jeden Fall nimmt sie hinsichtlich Qualität und Formenvielfalt eine wichtigere Stellung ein, als Schweizer Tattoo-Artists zugeben wollen. Einige grosse Namen wie die Familie Leu hatten einen wichtigen Einfuss: Sie förderten junge Menschen, steigerten die Qualität der Arbeit und machten die Schweiz in dieser Szene bekannt.

Wie wird die Schweizer Szene im Ausland wahrgenommen?

Im Ausland kennt man ein paar Namen, nimmt die Schweiz aber in Sachen Tätowieren nicht wirklich als Einheit wahr. Die bekanntesten Schweizer Tattoo-Künstler haben auf der ganzen Welt gearbeitet. Sie hätten sich in den Vereinigten Staaten oder anderswo niederlassen können, aber sie taten es nicht. Vielleicht nicht ohne Grund. Und heute kommen die Kund*innen von Filip Leu und Sailor Bit aus der ganzen Welt. Diese Leute fahren mit dem kleinen Zug nach Sainte-Croix hinauf: Sie kommen für diese Künstler extra in die Schweiz!

Wie hat sich das Tätowieren in der Schweiz entwickelt?

Wie in anderen europäischen Ländern sahen wir in den 1970er und 80er Jahren hauptsächlich Biker-Tattoos. Dann waren ein paar der Künster*innen mutiger und zeigten, dass wir mit diesem Medium auch etwas anderes, künstlerischeres machen können. Dann kam das Internet, das den Beruf demokratisierte. Und in den letzten zehn Jahren haben wir eine neue Infragestellung des Tätowierens mit der »Generation ECAL«, wie ich sie nenne, gesehen (ECAL = Ecole cantonale d’art de Lausanne). Diese Generation stammt nicht aus derselben Welt wie die vorherigen. Viele haben eine Ausbildung in Grafikdesign, Typografie oder bildender Kunst. Sie kreieren das Tattoo auf ihre eigene Weise. Darüber hinaus tun sie nicht nur das: Sie erstellen Plakate, Bücher, aber auch Illustrationen oder Designs. Diese Beziehung zur Grafik ist vielleicht das grösste Merkmal des Schweizer Tätowierens in jüngster Zeit.

Man redet heutzutage viel über Tattoos. Ist das eine kurzfristige Modewelle oder bleibt das »in«?

Die Anzahl der Studios wird mit der Zeit vielleicht etwas abnehmen: Es braucht im Moment nicht viel so mehr. Aber das Tattoo in seiner ästhetischen und sozialen Bedeutung und in dem, was es über die Beziehung zum Körper und zur Welt aussagt, wird bleiben. Es stellt etwas sehr Tiefes dar, was erklärt, warum Menschen es seit Tausenden von Jahren praktizieren. Es gab eine Zeit, in der sich Leute aus religiösen Gründen tätowierten. Später taten sie es, um einen rebellischen Charakter zu zeigen. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Die Gründe, sich ein Bild stechen zu lassen, ändern sich, aber die Tattoo-Kunst bleibt.