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»Die meisten Leute sprechen nur sehr ungern oder gar nicht über ihre Einsamkeitsgefühle.«  

von Lisa Waldvogel

In der Graphic Novel Seek You – Eine Reise in die Einsamkeit erforscht die amerikanische Autorin Kristen Radtke anhand ihrer eigenen Erfahrungen – sowie mit Bezügen zu Gegenwart, Geschichte und Wissenschaft – das Phänomen Einsamkeit. Im Zusammenhang mit dieser Graphic Novel hat das Helvetiq Magazin Dr. Hilde Schäffler getroffen. Die auf Einsamkeit spezialisierte Sozialanthropologin ist hauptberuflich Projektleiterin beim Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) und betrachtet das Thema im Gegensatz zu Radtke aus einer europäischen Perspektive.

Wie würden Sie Einsamkeit definieren?

Hilde Schäffler: Einsamkeit ist ein subjektives Leiden. Es ist ein Mangel an vertrauensvollen Beziehungen –ein Ungleichgewicht zwischen dem, wie man lebt, unddem, was man sich wünscht. Einsamkeit ist auch einsozialer Schmerz – und das ist gar nicht metaphorischgemeint. Tatsächlich betrifft der Schmerz, der durchsozialen Ausschluss hervorgerufen wird, dieselbe Gehirnregion wie der körperliche, somatische Schmerz.

Kristen Radtke bezeichnet Einsamkeit als »stille Epidemie«. Würden Sie dem zustimmen?

Aus epidemiologischer Sicht: Nein, denn Einsamkeit ist weder übertragbar noch eine Krankheit.

Aber sie ist sehr wohl ein Risikofaktor für die Gesundheit, da sie Erkrankungen Tür und Tor öffnet. Radtkes Beschreibung ist dennoch eine treffende Metapher. Und diese Stille, von der sie spricht, unterstreicht die Scham, die mit Einsamkeit einhergeht: Das Gefühl versagt zu haben, was den Aufbau von sozialen Beziehungen anbelangt, und nicht liebenswert oder interessant genug zu sein. Die meisten Leutesprechen deshalb auch nur sehr ungern oder gar nicht über ihre Einsamkeitsgefühle. Warum gibt es Einsamkeit? Einerseits ist Einsamkeit eine gewöhnliche menschliche Erfahrung. Es passiert allen, sich ab und zu oder eine Zeitlang einsam zu fühlen. In seinem Werk Symposion verwendet der griechische Philosoph Platon ein schönes Bild: Die Menschen waren ursprünglich kugelförmige Wesen, die dann aber zwei geteilt wurden. Seitdem sind sie auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte. Da fällt einem das Konzept der Seelenverwandtschaft ein, aber es gilt auch für die Gesellschaft insgesamt: Wir möchten von den anderen vervollständigt werden. Wir haben das Bedürfnis, uns in anderen wiederzuerkennen und dadurch zu erfahren,wer wir sind. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Andererseits sind in unseren heutigen Gesellschaften Unabhängigkeit und Freiheit die am höchsten geschätzten Werte. Wir wollen möglichst unabhängig entscheiden, was wir wann tun wollen. Wenn ich um 14 Uhr aufstehen und auf dem Sofa Chips futtern will, dann darf ich das tun, schliesslich bin ich selbst verantwortlich für mein Leben. Diese Eigenverantwortung hat aber auch zur Folge, dass wir andere eher alleine lassen oder auch uns selbst isolieren, wenn es uns schlecht geht. Der Preis für Unabhängigkeit und Freiheit ist nicht selten Einsamkeit.

Welchen Einfluss haben die modernen Technologien? 

Kurz gesagt: Sie machen es nicht besser. Studien zufolge verschlimmern digitale Medien die Situation sogar. Hinter der Glückskulisse des Bildschirms, einer grossen Zahl an »Freunden« und einer gefilterten Welt, fühlt man sich schnell abgehängt, ausgeschlossen. Oberflächliche Beziehungen helfen oft wenig gegen das Gefühl der Einsamkeit. Menschen brauchen vertrauensvolle Beziehungen, regelmässige soziale Kontakte und Begegnungen in der echten, nicht-virtuellen Welt. Die Pandemie hat uns das auch deutlich vor Augen geführt.

Was sind die Hinweise auf Einsamkeit in einer Gesellschaft?

Ein Risikofaktor für Einsamkeit ist beispielsweise, allein zu leben. Man kann sich also die Anzahl der Einpersonenhaushalte ansehen. Aber auch den alltäglichen »Plauderei-Anteil« – wohl eher gering in der Schweiz, wo man nur schwer über den Austausch von Höflichkeiten hinauskommt und es viel Zeit kostet, eine Freundschaft aufzubauen. Man hat Angst zu stören, sich einzumischen. Das kann zu psychischen Problemen und Einsamkeit führen. Aber psychische Erkrankungen erschweren soziale Teilhabe: Mitmenschen gehen auf Distanz und das soziale Netz wird ausgedünnt. 

Wie verbreitet ist Einsamkeit hierzulande? Laut den Erhebungen des Bundesamtsfür Statistik (BFS) gibt ca. ein Drittel der Bevölkerung an, sich manchmal einsam zufühlen, und bei etwas mehr als 5 % ist das häufig oder sehr häufig der Fall. Es ist zubeobachten, dass Frauen (aller Altersstufen),Menschen mit Migrationshintergrund und junge Menschen häufiger unter Einsamkeit leiden als andere Gruppen und dass Einsamkeit keineswegs nur ältere Menschenbetrifft.

Gibt es Aspekte, die ausser Acht gelassen werden, wenn man von Einsamkeitspricht?

Man vergisst häufig die Lösungen. Es gibt z. B. mehrere telefonische Angebote, wo Menschen, die sich allein fühlen, auf ein offenes Ohr stossen und wo Kontakte vermittelt werden. Gerade für Menschen, die sich schon länger einsam fühlen, lohnt es sich auch, sich zunächst einmal mit dem Gefühl der Einsamkeit an sich zu beschäftigen.Es kann sehr hilfreich sein, dieses Gefühl in einem ersten Schritt zuzulassen und zu realisieren, dass es sich um ein Gefühl handelt – nicht mehr, aber auch nichtweniger. Einsamkeit zu akzeptieren, kann helfen, den Einsamkeits-Stress abzubauen und damit auch wieder ganz anders auf andere Menschen zugehen zu können. An den eigenen kommunikativen und sozialen Kompetenzen zu arbeiten ist ein weiterer Weg aus der Einsamkeit heraus, der es uns erleichtern kann, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Gleichzeitig braucht es wie bei jeder »Epidemie« auch hier Massnahmen und Veränderungen auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene, wenn wir der Einsamkeit effektiv entgegentreten wollen.